Die Augen der 73-jährigen Palästinenserin leuchten, als sie in der Schülerrunde zu erzählen beginnt. Dass die Sieben- und Zwölftklässler kaum etwas über den israelisch-palästinensischen Konflikt wissen, fängt sie gelassen auf: „Ich lebe in einem Land, das von zwei Völkern beansprucht wird. Alle glauben, dass ihnen das Land von Gott gegeben ist“, skizziert die Christin das weit zurückreichende Grundproblem. „Jede Seite will das Land nur für sich allein.“
Den Alltag in Palästina beschreibt sie aufgrund der Besetzung durch das israelische Militär als „qualvoll“. Zur Veranschaulichung gibt sie ein Beispiel: Palästinensische und israelische Menschen dürfen nicht dieselben Straßen nutzen. Für die palästinensische Bevölkerung wurde ein alternatives Straßennetz geschaffen, das sich in Umwegen durch die Gegend schlängelt und mit zahlreichen militärischen Kontrollstellen versehen ist, die unterwegs zu passieren sind. So dauert eine eigentlich kurze Strecke von wenigen Kilometern Luftlinie mehrere Stunden. „Man weiß nie, ob man rechtzeitig ankommt“, sagt Sumaya Farhat-Naser. Dazu kommen Schießereien und Folterungen. „Jede Familie hat durch den Konflikt schon jemanden verloren“, resümiert sie.
Diese Situation löst bei vielen Menschen in Palästina Ärger und Wut aus. Um die Gewaltspirale zu unterbrechen, hat Sumaya Farhat-Naser vor vielen Jahren begonnen, ein Team auszubilden und mit diesem an Schulen, Universitäten und in Frauengruppen Friedenspädagogik zu unterrichten. „Ich bringe anderen bei, gewaltfrei zu denken, zu fühlen, zu sprechen und zu handeln“, erläutert sie. „Das ist nicht einfach. Man muss es lernen.“
Dann stellt sie den Schülerinnen und Schülern die 3 Prinzipien der Gewaltfreiheit vor, mit denen man Wut und Zorn begegnen kann:
1. Alle Menschen sind gleich vor Gott.
2. Jeder Mensch ist anders. Wir alle sind unterschiedlich.
3. Jeder Mensch wird mit einem wunderbaren Kern geboren, einem Diamanten. Es ist an jedem selbst, ihn zum Leuchten zu bringen.
Sumaya Farhat-Naser ist überzeugt: Wer diese 3 Prinzipien verinnerlicht, kann entsprechend friedlich seine Gedanken lenken und in schwierigen Situationen gelassen bleiben. Denn: Unsere Gedanken bestimmen unseren Charakter, unser Charakter bestimmt unser Handeln, und unser Handeln bestimmt unsere Zukunft. Diese Weisheit hat sie dem Talmud entnommen, einem wichtigen jüdischen Schriftwerk. Für Sumaya Farhat-Naser ist dies der Weg zur Hoffnung. Sie selbst gestattet sich in ihrem Alltag, nur noch 1 Minute lang wütend zu sein. „Dann beginne ich zu lächeln und fange neu an“, sagt sie und reißt begeistert die Hände nach oben. „Ich will mich selbst schützen. Bravo!“
Ungläubige Blicke einer Siebtklässlerin. Vorsichtshalber fragt sie nach: Sie solle tatsächlich nicht wütend sein, wenn ihr jemand ihre letzten Gummibärchen geklaut hat und es obendrein leugnet? Sumaya Farhat-Naser nickt und lächelt großmütterlich. Fragezeichen in den Augen der Schülerin.
Das Treffen findet nicht zufällig im Raum „Sternberg“ statt. Dieses Zimmer der Evangelischen Zinzendorfschulen Herrnhut ist benannt nach dem Sternberg nahe der palästinensischen Stadt Ramallah. Auf diesem Hügel betreibt die weltweite Brüder-Unität das Förderzentrum Sternberg, das sich um die Betreuung, Pflege und Ausbildung von Menschen mit Handicap kümmert. Etliche Jahre leitete Sumaya Farhat-Naser dieses Haus. Mehr noch. Sie kennt es seit ihrer Kindheit, hat dort dutzende Bäume gepflanzt. Heute wohnt die pensionierte Universitätsprofessorin für Botanik und Ökologie nur 5 Kilometer entfernt.
Die Evangelischen Zinzendorfschulen Herrnhut fühlen sich dieser Einrichtung eng verbunden. Der traditionelle Spendenlauf im Frühjahr dient stets dazu, Geld für die Arbeit des Förderzentrums Sternberg zu sammeln. Auch reist in „normalen Zeiten“ eine EZSH-Schülergruppe aller zwei Jahre zum Sternberg, um den israelisch-palästinensischen Konflikt von beiden Seiten zu erleben. Nach einer Corona bedingten Unterbrechung könnte es im Februar 2023 wieder so weit sein.
In der Runde sitzt auch ein Zwölftklässler, der bereits an einer solchen Exkursion zum Sternberg teilgenommen hat. Prompt erinnert er sich auch wieder an das kurze Treffen, das er mit der Friedenspädagogin in Palästina erlebt hat. In seinem Kopf scheint es zu rattern. Konzentriert lauscht er ihren Worten.
Sumaya Farhat-Naser erzählt, dass im Rahmen ihrer Arbeit früher auch friedenspädagogische Projekte mit israelischen Kindern und Frauen möglich waren. Aus ihrer Sicht eine ganz wichtige Voraussetzung für ein friedliches Miteinander, denn auf diese Weise lernen sich Israelis und Palästinenser als Menschen kennen. Derlei Kontakte und Projekte seien seit einiger Zeit verboten, berichtet sie. „Wir dürfen physisch nicht zueinander. Die Ideologen wollen, dass wir uns als Feinde sehen.“ Dabei legt sie Wert darauf, kein Schwarz-Weiß-Bild zu zeichnen. Sie betont: Auch in der israelischen Bevölkerung gibt es viele, die diese Situation nicht gutheißen. Gerade unter israelischen Jugendlichen macht sie eine wachsende Gruppe aus, die sich für ein friedliches Leben mit den Palästinensern einsetzt.
Und was nehmen die Schülerinnen und Schüler der Zinzendorfschulen aus dieser Begegnung mit? Julia aus Klasse 12 sagt: „Eine andere Sicht als die, die man aus unseren Medien kennt. Von der alltäglichen Unterdrückung der Palästinenser wusste ich noch nichts.“ Sie ist dankbar für diesen persönlichen Austausch. Mit Sumaya Farhat-Naser habe der israelisch-palästinensische Konflikt für sie ein menschliches Gesicht bekommen.
Sumaya Farhat-Naser hat in den vergangenen 40 Jahren aller sieben Jahre ein Buch veröffentlicht – stets in der Erzählform eines Tagebuchs verfasst. Das neueste der bislang 5 Werke heißt „Ein Leben für den Frieden“ und wird in Kürze auch in der Schulbibliothek der Zinzendorschulen vertreten sein.