Strawalde zu Gast im Zinzendorf-Gymnasium

Am 18. September 2012 war der Künstler Strawalde zu Gast am Zinzendorf-Gymnasium in Herrnhut, weil Olivia aus der Klasse 6 eine Verbindung zu seinen Wurzeln in dieser Region ist, weil ihr Großvater ein guter Freund von Jürgen Böttcher war und weil er sich ganz sicher ist, dass vor Jahrzehnten seine Kindheit in Strahwalde und auch Herrnhut Grundlage für sein Leben geworden ist.

Strawalde im Zinzendorf-Gymnasium

Er ist weltberühmt, seine Bilder hängen in der Neuen Nationalgalerie in Berlin, er stellt sie in der Galerie Neue Meister in Dresden und derzeit in Singapur aus. Einige seiner Dokumentarfilme liefen im MOMA in New York und in Boston. Er erhielt mehrere Kunstpreise, das Bundesverdienstkreuz und 2006 eine Berlinale-Kamera für sein Lebenswerk. Am 18. September 2012 war Strawalde zu Gast am Zinzendorf-Gymnasium in Herrnhut, weil Olivia aus der Klasse 6 eine Verbindung zu seinen Wurzeln in dieser Region ist, weil ihr Großvater ein guter Freund von Jürgen Böttcher war und weil er sich ganz sicher ist, dass vor Jahrzehnten seine Kindheit in Strahwalde und auch Herrnhut Grundlage für sein Leben geworden ist. Jürgen Böttcher nennt sich Strawalde. Unter diesem Namen kennt ihn die Kunstwelt.

Er war Gast in Klasse 11, war von der großen Aufmerksamkeit begeistert. Der 81-Jährige wurde als „lebendiger Mann, der sich seinen Revolutionsgeist über die Jahre behalten hat“ wahrgenommen. Seine Spontanität und seine Unmittelbarkeit machten ihn den Schülern sympathisch. Die Inspirationsquellen seiner Kunst beeindruckten die 17-Jährigen.

Anschließend erlebte ihn die Klasse 6/1:

Er beginnt zu erzählen, unvermittelt, direkt und gewinnt seine jungen Zuhörer rasch. Da ist die Geschichte von einem Wäschepfahl im Garten, den er mit Kieselsteinen beworfen hat, wenn er allein im Garten war. Der Vater war Studiendirektor und hat viel gelesen, seine Mutter hatte zu tun. Für die Kinder im Ort war er ein anderer. Er hatte längere, vornehme Hosen und nicht die Sprache der Strahwälder. An das „Klack“, wenn der Kieselstein den Wäschepfahl getroffen hatte, erinnerte er sich immer wieder. Auch diese Handbewegung, diese Körperhaltung des Kieselsteinwurfes ist ihm gegenwärtig geblieben, wenn er seine großen Bilder gezeichnet hat. Linien und Flecke seien für ihn ursprünglich. Werfen und punktgenau treffen.

Er spricht darüber, wie spannend es für ihn war, Blumen und Gräser zu sehen und später auch zu malen. Mit weißer Kreide skizziert er rasch die Blüte einer Akelei an der Tafel – Linie und Flecke. Fein und derb – Körpersprache wird zum Bild.

Er will wissen, was die Kinder heute wissen, wie sie denken. Jemand hat ein Bündel Zeichnungen aus dem Kunstunterricht mitgebracht. Er schaut sie sich an – es ist eine andere Welt, die Welt des kleinen Zeichenblattes im Kunstunterricht und es sind die Motive einer anderen Generation. Strawalde öffnet zum Gespräch, möchte von den Kindern hören, sie sollen erzählen. Die Kinder fragen ihn.

Ein Junge fragt nach seinem ersten Film. Böttchers Antwort: er habe ihn in den sechziger Jahren gedreht und er wurde verboten. Das war die DDR. Er hat weitere Filme gedreht, Dokumentarfilme über schwer arbeitende Leute – Wäscherinnen, Rangierer, als Dank an sie. Die Filme beeindruckten die Welt und er wurde noch zu DDR-Zeiten nach Paris und London und Amerika eingeladen.

Eine Schülerin fragt, wie viel Euro er für ein Bild bekommen habe, das er gemalt hat – eine Frage aus unserer Zeit. Die Antwort „nichts“ und er habe seinen Lebensunterhalt immer irgendwie verdient, mag für die Schülerin unwirklich klingen. Einer fragt nach der Zahl seiner Bilder. Die Antwort: 15 000 Bilder, 10 000 Zeichnungen – ohne Zählung. Seit Mitte August bis jetzt habe er 50 Bilder gemalt, auf einem besonderen, teuren französischen Aquarellpapier, das er sich besorgt habe und mit einem echten Gänsekiel.

Wie am Anfang – unvermittelt und wie nebenbei läuft die Videokamera, von ihm geführt – er dokumentiert den Besuch bei Schülern auf seine Weise.

Er spricht darüber, dass Kunst nicht nur ein geistiger Prozess ist, sondern vor allem aus Geist und Sinnen entsteht. Das ist für die Kinder schwer zu fassen, aber einige ahnen, was er meint. Er erzählt, dass er viele Bilder bei Freunden hatte, weil sie einfach die größere Wohnung besaßen – man spürt beim Erzählen den Verlust noch, als Freunde diese Bilder bei ihrer Ausreise mit in den Westen genommen haben.

Strawalde spürt, dass die Kinder nicht alles fassen können und er spricht es an: Ich weiß gar nicht, wie ich euch helfen kann oder Es tut mir leid, dass ihr mit mir nichts anzufangen wisst. Und er erklärt, dass Zeichenunterricht offenbar sehr anders ist. Und er erklärt, dass es wohl mit Gedichten ähnlich sei. Der Rhythmus und die Seelen der Gedichte haben ihn immer fasziniert. Sie sind ihm im Gedächtnis geblieben.

Ein Schüler fordert Strawalde auf, ein Gedicht zu sprechen. Alle sind verblüfft, als er gleich mehrere rezitiert: Christian Morgenstern „Das ästhetische Wiesel“, Wilhelm Busch, dann Hölderlin „Hälfte des Lebens“.

Als am Ende alle Sechstklässler eine vom Künstler handsignierte Kunstpostkarte mitnehmen dürfen, sind sie begeistert. Sie bedanken und verabschieden sich höflich.

Die Dimension dieser Begegnung wird ihnen vielleicht erst viel später bewusst. Die signierte Autogrammkarte wird sie erinnern. Den großen Schülern hatte er versprochen: wir sehen uns wieder.

Undine Bensch